Der folgende Text erschien in gedruckter Form. Die Veröffentlichung an dieser Stelle erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Herausgebers.

Scholz, Reiner [Hrsg.]:
Mühsam's Geschütteltes - Schüttelreime und Schüttelgedichte von Erich Mühsam. Zusammengestellt und mit einem Reimregister versehen von Reiner Scholz. Mit einem Vorwort von Alfred Estermann.
Frankfurt am Main: Stadt- und Universitätsbibliothek, 1994, 62 S., ISBN 3-88131-075-4

Bezugsnachweis: Stadt- und Universitätsbibliothek; Bockenheimer Landstraße 134-138; 60325 Frankfurt am Main

 


M Ü H S A M ' S    G E S C H Ü T T E L T E S

[Bleistiftzeichung Mühsams von J. Pfeil]
Erich Mühsam nach einer Bleistiftzeichnung von J. Pfeil

Schüttelreime und Schüttelgedichte

von Erich Mühsam

Zusammengestellt und mit einem Reimregister versehen
von Reiner Scholz

Mit einem Vorwort
von Alfred Estermann

Stadt- und Universitätsbibliothek
Frankfurt am Main 1994

 

 


 

 

Inhalt

 

Einleitung

Alfred Estermann:
Erich Mühsam und seine Schüttelreime

Schüttelreim-Texte

Erläuterungen

Register der Reimwörter

Literatur

 

 


 

 

Einleitung

Eine Sammlung von Schütteltexten von Erich Mühsam gibt es bisher nicht. Manfred Hanke weist in seinem Buch Die Schüttelreimer (Stuttgart 1968), S. 41 f. auf ihn als einen der frühen Schüttelreimer hin und zitiert auch einige als Mühsamiana bekannte Verse. In den achtziger Jahren werden dann Schüttelreime von Erich Mühsam abgedruckt in Band 1 der Gesamtausgabe (Gedichte) (Berlin 1983), in der Briefausgabe In meiner Posaune muß ein Sandkorn sein (Vaduz 1984) und in dem Band Zur Psychologie der Erbtante. Satirisches Lesebuch (Berlin 1984). Außer im letztgenannten Band, in dem die Schüttelreime zusammengefaßt abgedruckt sind, findet man die Schüttelreime nur sehr verstreut und ohne Hinweis auf die besondere Reimart.

Anlaß der jetzigen Sammlung ist eine Veröffentlichung von Helga Döhn, einer Bibliothekarin aus der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin. Unter dem Titel Oh säss E. E. in unsrer Mitten! publizierte sie in MARGINALIEN, 120. Heft, (1991/92) S. 17 ff., eine größere Anzahl von Postkarten Mühsams an Erich Ebstein (und andere) aus dem Nachlaß Ebstein, die z. T. Schüttelreime enthalten. Diese Funde haben mich veranlaßt, gezielt nach Schüttelreimen von Erich Mühsam zu suchen. Hilfreich hierbei war mir nicht nur die Mühsam-Bibliographie von Heinz Hug und Gerd W. Jungblut (Vaduz 1991), sondern auch Hinweise von Manfred Hanke auf frühe Schüttelreime Mühsam's bei John Höxter und Viktor Mann sowie in der Zeitschrift Fröhliche Kunst. Die Sammlung habe ich ergänzt durch Einzelfunde aus Kain, Krater und Wüste. Ein Anspruch auf Vollständigkeit besteht nicht; Schüttelreime von Erich Mühsam können immer noch in einzelnen Zeitschriften oder in unveröffentlichten Nachlässen entdeckt werden.

Ich habe die Reime - soweit dies feststellbar war - nach dem Zeitpunkt der Entstehung oder der Erstveröffentlichung geordnet. Bei den Nummern 1 bis 6 war dies - obzwar die Nummern 1, 3 und 4 schon lange als Mühsam-Schüttelreime zitiert werden - leider nicht möglich. Soweit Reime mehrmals abgedruckt sind, habe ich alle Fundstellen angegeben.

Im Anschluß an die Gedichte gebe ich unter Erläuterungen einige Hinweise zu den in den Versen oder als Brief- und Postkartenempfänger genannten Personen, die für heutige Leser nicht als bekannt vorausgesetzt werden können.

Ein Wort noch zum Reimregister: Hier habe ich versucht, die Möglichkeit eines Zugriffs auf das Wesentliche eines Schüttelreims - die Reimwörter - zu schaffen. Welche Chancen die Erstellung weiterer Reimregister anderer Autoren und ihre Zusammenführung im Hinblick auf Vergleichbarkeit, früheste Veröffentlichung und unterschiedliche Textgestaltung bieten werden, wird die Zukunft zeigen.

Dank gebührt schließlich Gisela Treffert für die drucktechnische Bearbeitung des Textes sowie Herrn Berndt Dugall, dem Direktor der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt, der die Herstellung dieses Bändchens ermöglicht hat.

Reiner Scholz

 

 


 

 

Die Liebe und das Leben ehren -
Das möchten wir Euch eben lehren.

Erich Mühsam und seine Schüttelreime
Zu seinem 60. Todestag

1

Den Menschen vieles gibt das Leben / Doch nicht ein jeder liebt das Geben. Auch eine deutsche Biographie: Erich Mühsam wurde 1878 in Thomas Manns Lübeck geboren, 1934 in Adolf Hitlers KZ Oranienburg ermordet. Aus der Geschichte der deutschen Literatur kennt man ihn als Satiriker, Lyriker, Dramatiker und Essayisten, aus der politischen Geschichte der Deutschen als anarchistischen Sozialisten und utopischen Kommunisten. Wovon er berührt war, was er verändern wollte und was er nie erreichte, läßt sich an seinen Gedichtbänden (Die Wüste, 1904; Brennende Erde, 1920; Revolution, 1925) ebenso ablesen wie an seinen Bühnenstücken (Die Hochstapler, 1906; Judas, 1924; Staatsräson, 1928), erst recht an seinen Manifest- und Essay-Sammlungen: Alarm, 1925, Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat, 1932. (Zu diesem Befund würde Die Eigenen passen, ein Tendenzroman für freie Geister, 1903 in Berlin erschienen, die Schilderung einer auch in sexuellen Beziehungen besitzfreien Kommune-Siedlung in Amerika; dieses Buch galt den Bibliographen lange Zeit als Mühsams Erstling, es stammt aber von Emil F. Ruedebusch, der es 1898 zuerst auf Amerikanisch veröffentlichte.)

Nach der Jahrhundertwende war Mühsam in Berlin fester Bestandteil der Café-Größenwahn-Kultur, verkehrte mit anderen Auch-Schüttelreimern wie Ferdinand Hardekopf, Salomo Friedländer-Mynona, René Schickele oder John Höxter: Eine wilde Wirrnis von widerborstigem graurotem Haupt- und Barthaar über einem sehr ungebügelten Konfektionsanzug, die todernst Schüttelreime vortrug - so Viktor Mann in Wir waren fünf. Aus diesem expressionistisch-dadaistischen Ambiente stammt sein späterer futuristischer Schleifenschüttelreim: Der Nitter splackt. / Das Splatter nickt, / wenn splitternackt / die Natter splickt.

Ab 1909 lebte er in München. Hier entstand einer seiner witzigsten Texte, ein - auf Richard Wagner formuliertes - Süddeutsches Weihebühnen-Festspiel mit dem schönen Titel Im Nachthemd durchs Leben, hier schrieb er für das Flaggschiff der deutschen Satire-Zeitschriften, den Simplicissimus, hier gab er zwei bemerkenswerte politisch-literarische Blätter heraus, Kain, eine Zeitschrift für Menschlichkeit, 1911 - 1919, und Fanal, eine Anarchistische Monatsschrift, 1926 - 1933, deren rote, brennendrote, umsturzrote Umschläge so provozierend signifikant waren wie ihr flammender Inhalt. Wird noch vom Dichterwert geschwätzt? / Oh nein! Jetzt wird das Schwert gewetzt. / Es wird sogar schon sehr gewetzt / und sich damit zur Wehr gesetzt.

1919 geriet er in den Strudel des Kurt-Eisner-Staates, wurde Mitglied des Revolutionären Arbeiterrats und half, die Bayerische Räterepublik zu proklamieren, was ihm eine Verurteilung zu 15 Jahren Festungshaft eintrug, die erst 1924 durch eine Amnestie kassiert wurde. Wie schade! Wenn's mal ein Erlebnis giebt, / Daß man so selten das Ergebnis liebt.

2

Was Schüttelreime, den Versuch also, die (Reim-)Welt auf den Kopf zu stellen und sie doch auf den Füßen stehen zu lassen, anlangt, so kann man die Literatur-Konsumenten in zwei Fraktionen gliedern, in 1. die, die sie nicht mögen, und in 2. die, die sie mögen. Letztere wiederum sind zu differenzieren in 2.1. die, die eher auf die Form (die perfekte Reinheit der Wörter beim Vertauschen der Initialen) achten,und in 2.2 die, denen vor allem am Sinn (an der Verblüffung, am Witz, am Kalauer) gelegen ist. Mühsam zählt sowohl zu 2.1. als auch zu 2.2.: Juchhe! rief Karl, juchhe, der Falter! / Er sitzt auf meinem Federhalter! - - Es trinkt ein ganzes Schock Kamelchen / aus einem kleinen Mokkaschälchen.

In der Geschichte des Reimeschüttelns hat er seinen festen Platz. Frühe Einfälle erschienen in Theodor Etzels Magazin Fröhliche Kunst, 1902; (wenn Mühsam allerdings in seiner Autobiographie behauptet, er habe ebendort den Schüttelreim als poetische Spezialität in die deutsche Literatur eingeführt, so ist dies nachweislich nicht wahr; es gibt Vorläufer). Später verwendete er Geschütteltes vor allem im privaten Bereich, des öfteren als Bestandteil der Korrespondenz; bekannte Namen unter den Adressaten seiner Briefe und Postkarten sind Karl Kraus, Arthur Kutscher und Karl Henckell; mehrere gingen an Carl Georg von Maassen, besonders viele an Erich Ebstein.

Die Sammlung aller bisher bekannt gewordenen Schüttelreime Mühsams, die Reiner Scholz mit großer Sorgfalt und Umsicht zusammengetragen und um ein verdienstvolles Reim-Register bereichert hat, zeigt die ganze Palette der spielerischen Vielfalt und mühelosen Leichtigkeit Mühsamscher Produktion: Zweizeiler, Vierzeiler, Vierfachreime, Nonsensreime, Kurzschüttelreime, auch ein längeres Gedicht. Wahrhaftige Klassiker findet man darunter, knappe Aphorismen und Verse, die lange Geschichten in zwei Zeilen erzählen. Beispielsweise zur deutschen Literatur: Der ist ein großer Schweinehund, / dem je der Sinn für Heine schwund. Oder zu inhumanen Interaktionen: Man wollte sie zu zwanzig Dingen / in einem Haus in Danzig zwingen. Oder auch zur allgemeinen menschlichen Gemeinheit: Dem Onkel ist zum Sterben elend. / Da sieht man schon die Erben stehlend.

Ein charakteristisches Detail für Mühsams Einschätzung seiner Schüttelreim-Produktion als Gelegenheits- und a parte-Eingebungen berichtet Maximilian Müller-Jabusch in Kunststücke (1960), S. 30: Gedruckt sind sie nicht, denn Mühsam verlangte von Alfred Richard Meyer, der sie verlegen wollte, daß sie Klosettpapier gedruckt würden, und das konnte Meyer mit seinem verlegerischen Gewissen nicht vereinbaren.Daß Mühsam außer in Schüttelreimen auch sonst ein begabter Sprachspieler war, belegt etwa eine Ansichtspostkarte von 1914, auf der er eine Kleine mittlere Novelle mit Anagrammen notierte: Er liebte Erna Morena, die in der Arena enorm wirkte, aber sie machte sich wie eine Anemone rar, und während er an Romane mit ihr dachte, ging sie mit Aron (Merane) durch.

3

Einer der besten Schüttelreime Mühsams, ein vierfacher obendrein, stammt aus dem Jahre 1913: Der arme Weber. Seine letzte Zeile klingt wie ein Motto über seinem Leben und auch über der von ihm erlebten Zeit: Da sitz ich nun und webe Leinen. / Im Traume kann ich Fleisch im Leibe wähnen, / im Traum kann ich an einem Weibe lehnen. / Doch wach muß ich, solang ich lebe, weinen.

Alfred Estermann

 

 


 

 

S C H Ü T T E L R E I M - T E X T E

 

 

1

Da war das Fräulein Liebetraut,
das an den Folgen einer Traube litt.
Quälend rumorten ihre Triebe laut,
weshalb sie schnell in jene Laube tritt.

Höxter: So lebten wir (1929), S. 11
Auch in: Zur Psychologie der Erbtante (1984), S. 20

 

 

2

Der ist ein großer Schweinehund,
dem je der Sinn für Heine schwund.

Zur Psychologie der Erbtante (1984), S. 20

 

 

3

Man wollte sie zu zwanzig Dingen
in einem Haus in Danzig zwingen.

Höxter: So lebten wir (1929), S. 11
Auch in: Zur Psychologie der Erbtante (1984), S. 20

 

 

4

Sie würden mir eine große Freude bereiten,
wenn Sie meinen Hund von der Räude befreiten.

Viktor Mann: Wir waren fünf (1949), S. 427
Auch in: Zur Psychologie der Erbtante (1984), S. 20

 

 

5

Ob ein Autor gegen Siegfried Jacobsohn
Sieg sieht? Ja, Kopffrohn.

Höxter: So lebten wir (1929), S. 12

 

 

6

Als ich Dir meine Schand' im Suff gepetzt
sind wir selbander in den Puff gesetzt.
(Postkarte an Erich Ebstein, ohne Datum)

Marginalien (1991/92), S. 18

 

 

7

"Juchhe!" rief Karl, "juchhe, der Falter!
Er sitzt auf meinem Federhalter."

Fröhliche Kunst, 1 (1) Juni 1902, S. 83
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 36

 

 

8

Dass man mir doch den Käse nenne,
den ich nicht mit der Neese kenne.

Fröhliche Kunst, 1 (1) Juni 1902, S. 83
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 36

 

 

9

Der Knabe stiehlt am Baume fleissig,
Schon hat er eine Pflaume bei sich.

Fröhliche Kunst, 1 (1) Juni 1902, S. 83
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 36

 

 

10

Der Sänger singt am Weiher leise,
doch singt er etwas leierweise.

Fröhliche Kunst, 1 (1) Juni 1902, S. 83
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 36

 

 

11

Die Liebe und das Leben ehren -
Das möchten wir Euch eben lehren.

Fröhliche Kunst, 1 (1) Juni 1902, S. 83
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 35

 

 

12

Wenn ich nur eine Bimmel hätt',
Ich hing sie an mein Himmelbett.

Fröhliche Kunst, 1 (1) Juni 1902, S. 83
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 36

 

 

13

Da Pferde oft aus dem Zügel flüchten,
Will ich doch lieber Geflügel züchten.

Fröhliche Kunst, 1 (2) Juli 1902, S. 180
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 38

 

 

14

Ich will mich lieber an ein Zweirad hängen,
als mich so jung schon in die Heirat zwängen.

Fröhliche Kunst, 1 (2) Juli 1902, S. 180
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 38
(Vgl. auch Nr. 61)

 

 

15

Mein kleines Mädchen reibt sich leise
Das Aug', wenn ich nach Leipzig reise.

Fröhliche Kunst, 1 (2) Juli 1902, S. 180
Auch in: Victor Mann, Wir waren fünf (1949), S. 427
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 38
Auch in: Zur Psychologie der Erbtante (1984), S. 20
in der Fassung:
Das kleine Mädchen reibt sich leise
das Knie, wenn ich nach Leipzig reise.

 

 

16

Mit einem starken Schweden ringen,
Ist nicht so leicht wie Reden schwingen.

Fröhliche Kunst, 1 (2) Juli 1902, S. 180
Auch in: Wüste (1904), S. 69
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 19
Auch in: Zur Psychologie der Erbtante (1984), S. 20

 

 

17

Wie schade! Wenn's mal ein Erlebnis giebt,
Daß man so selten das Ergebnis liebt.

Fröhliche Kunst, 1 (2) Juli 1902, S. 180
Auch in: Wüste (1904), S. 69
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 18
Auch in: Zur Psychologie der Erbtante (1984), S. 20
(Vgl. auch Nr. 61)

 

 

18

Ich bürste in dem Rosenhain
Den Rock mir und die Hosen rein.

Fröhliche Kunst 1 (5) Oktober 1902, S. 457
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 54

 

 

19

Ich sing mein Lied und wander' so,
Bald bin ich hier, bald anderswo.

Fröhliche Kunst 1 (5) Oktober 1902, S. 457
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 18

 

 

20

Man soll sich nicht in Häuschen laben,
Wo die Bewohner Läuschen haben.

Fröhliche Kunst 1 (5) Oktober 1902, S. 457
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 54

 

 

21

Nach Blut ist nicht mein Degen geil -
Ich huste drauf im Gegenteil.

Fröhliche Kunst 1 (5) Oktober 1902, S. 457
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 54

 

 

22

Wer dichten will, der thäte gut,
Er macht' es so, wie's Goethe thut.

Fröhliche Kunst 1 (5) Oktober 1902, S. 457
Auch in: Wüste (1904), S. 69
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 19
Auch in: Zur Psychologie der Erbtante (1984) S. 20

 

 

23

Den Menschen vieles gibt das Leben.
Doch nicht ein jeder liebt das Geben.

Wüste (1904), S. 69
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 19
Auch in: Zur Psychologie der Erbtante (1984), S. 19

 

 

24

Die Männer, welche Wert auf Weiber legen,
tun dieses leider meist der Leiber wegen.

Wüste (1904), S. 69
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 18
Auch in: Zur Psychologie der Erbtante (1984), S. 20

 

 

25

Eh' du auf andre willst mit Waffen schießen,
mußt du erst selber was zu schaffen wissen.

Wüste (1904), S. 69
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 18

 

 

26

Um die Spießer Lindaus zu kränken,
braucht man nur an Karl Kraus zu denken.
(Postkarte an Karl Kraus, 1. Juli 1907)

Posaune (1984), S. 103

 

 

27

An der Liebe Niederlagen
läßt der Dichter Lieder nagen.

Der Krater (1909), S. 75
Auch in: Zur Psychologie der Erbtante (1984), S. 20

 

 

28

Man holt sich alle Kitscher ran,
und sieht nicht, was die Ritscher kann.

Kain 2 (1912) Nr. 4, S. 59

 

 

29

Willst Du nicht Eine aus dem Süden frei'n?
Mit Ihrer Kunst wirst Du zufrieden sein.
(Brief an Carl Georg von Maassen, 1913)

Posaune (1984), S. 154

 

 

30

Du baust ne Villa, Du Banause?
Na, bau se!
(Postkarte an Erich Ebstein, 19. Mai 1913)

Marginalien (1991/92), S. 18

 

 

31

Futuristischer Schleifenschüttelreim:
Der Nitter splackt.
Das Splatter nickt,
wenn splitternackt
die Natter splickt.
(Postkarte an Erich Ebstein, 19. Mai 1913)

Marginalien (1991/92), S. 19
Auch in: Posaune, Band 2 (1984), S. 717

 

 

32

Will man bei der Königin von Saba liegen,
muß man über sie im Laben siegen,
muß beglücken sie in sieben Lagen,
doch ihr nichts dabei vom Lieben sagen.
(Postkarte an Erich Ebstein, 19. Mai 1913)

Marginalien (1991/92), S. 18

 

 

33

Der arme Weber
Da sitz ich träumend nun und webe Leinen
Im Traume kann ich Fleisch im Leibe wähnen,
im Traum kann ich an einem Weibe lehnen.
Doch wach muß ich, solang ich lebe, weinen.
(Postkarte an Erich Ebstein, 23. Juni 1913)

Marginalien (1991/92), S. 19

 

 

34

Man wird in unsern Wahlbezirken
die größte Stimmenzahl bewirken.
(Postkarte an Erich Ebstein, 23. Juni 1913)

Marginalien (1991/92), S. 19

 

 

35

Von deutschen Dichtern lies am meisten,
die, die soviel wie Mühsam leisten.
(Postkarte an Erich Ebstein, 23. Juni 1913)

Marginalien (1991/92), S. 19
Auch in: Höxter, So lebten wir (1929), S. 11; das Gedicht
wird dort Mynona (Salomo Friedländer) zugeschrieben.
Auch in: Zur Psychologie der Erbtante (1984), S. 20 (auch
unter der Verfasserangabe: Mynona)
Auf der Postkarte von 1913 unten am Kartenrand der Zusatz von Maassen: Dem letzten Vers geben wir die überschrift "Schlechter Rat".

 

 

36

Eisenbahnroman:
Sie brauchten nirgends umzusteigen.
Drum gab sie sich ihm stumm zu eigen.
Doch weil verkehrt die Weichen lagen,
fuhr man sie heim im Leichenwagen.
(Postkarte an Erich Ebstein, 2. Juli 1913)

Marginalien (1991/92), S. 20
Auch in: Höxter, So lebten wir, (1929), S. 11
Auch in: Zur Psychologie der Erbtante (1984), S. 20

 

 

37

Was stehst Du hier am Frauenplatz?
Fahr doch mit mir nach Plauen, Schatz! (Müßte in der zweiten Zeile "Fratz" heißen.)
(Postkarte an Erich Ebstein, 14. Juli 1913)

Marginalien (1991/92), S. 20

 

 

38

Der Schwerverbrecher
Im Kopfe hats dem Vieh getickt.
Er hat mit Sympathie gemordet. (lies: gef....)
Doch was den Schwerverbrecher freute,
war eine Serie frecher Bräute.
(Postkarte an Erich Ebstein, 21. Oktober 1913)

Marginalien (1991/92), S. 20

 

 

39

Ein Prost! - Grüß Schulmann, jenen Balten auch
und klopf Dich selbst auf Deinen alten Bauch!
(Postkarte an Carl Georg von Maassen, 4. Januar 1914)

Posaune (1984), S. 158

 

 

40

Heut schwelge ich in lyrerischer Feier
und lausch dem Klang verführerischer Leier.
Denn selbst dem Kampf, den man vom Enkel hofft
macht jetzt schon die Musik Karl Henckell oft.
(Postkarte an Karl Henckell, 25. März 1914)

Posaune (1984), S. 160

 

 

41

Der 22te ist ein Schlaubentag.
So grüß ich Dich vom Taubenschlag.
(Postkarte an Carl Georg von Maassen, 23. April 1914)

Posaune (1984), S. 163

 

 

42

Ein Schüttelreim zuvor:
Ich sagte ihr bei Patzenkofer, (lies: Schultheiß:)
daß ich auf ihre Gunst verzichte. (lies: ...)
(Postkarte an Erich Ebstein, 1. Mai 1914)

Marginalien (1991/92), S. 23

 

 

43

Ein Schüttelreim hernach:
Zwei Mädchen sollen mir ihr Bett gewähren.
Wenn's Zeit ist, werden sie drin wettgebären.
(Postkarte an Erich Ebstein, 1. Mai 1914)

Marginalien (1991/92), S. 23

 

 

44

Doch ich, bewährt als ein Zigarrenbold,
schätz Deinen Plan gleich einem Barren Gold.
(Postkarte an Erich Ebstein, 4. Mai 1914)

Marginalien (1991/92), S. 25

 

 

45

Dem Onkel ist zum Sterben elend.
Da sieht man schon die Erben stehlend.
(Postkarte an Erich Ebstein, 28. Mai 1914)

Marginalien (1991/92), S. 24

 

 

46

Derweil wir hier von manchem Wert geschwätzt,
hat Kutscher draußen schon das Schwert gewetzt.
(Postkarte an Artur Kutscher, 27. November 1914)

Posaune (1984), S. 172
(vgl. auch Nr. 58)

 

 

47

Schicksal eines Engländers:
Man schoß ihn aus einem Tauchboot
mitten durch den Bauch tot.
(Postkarte an Erich Ebstein, 1. Juni 1915)

Marginalien (1991/92), S. 25

 

 

48

Möchtest Du übrigens mal mit schweren Ringen am Bein
zu Fuß marschieren nach Bingen a. Rh.?
(Brief an Erich Ebstein, 4. Juni 1915)

Marginalien (1991/92), S. 25

 

 

49

Und denkst Du Dir: Ich bin ein Zecher!
Dann steht gleich da aus Zinn ein Becher!
(Abschnitt einer Paketkarte an Erich Ebstein, 4. Juni 1915)

Marginalien (1991/92), S. 25

 

 

50

Die sehe ich nun täglich sich Heliotrop-Stinkflecken
mit dem Glasstäbchen in ihren Busen flink stecken.
(Postkarte an Erich Ebstein, 19. Juni 1915)

Marginalien (1991/92), S. 26

 

 

51

Nimm Dir kein Mädchen je von Straßen mit,
das um den Preis schon mit von Maassen stritt.
(Postkarte an Erich Ebstein, 19. Juni 1915)

Marginalien (1991/92), S. 26

 

 

52

Wird sie wohl bald in Deine Bude treten?
Dann magst Du zu Gott mitsamt der Trude beten!
(Postkarte an Erich Ebstein, 19. Juni 1915)

Marginalien (1991/92), S. 26

 

 

53

Hier sitzen wir selband
uns schmückend und salbend,
wobei ich vom Elbsand
Dir Grüße zur Alb send.
(Postkarte an Erich Ebstein, 15. November 1915)

Marginalien (1991/92), S. 26

 

 

54

Wenn mein Hund zu bellen droht
geb ich ihm Sardellenbrot.
(Postkarte an Erich Ebstein, 15. November 1915)

Marginalien (1991/92), S. 26

 

 

55

Also: Will's Ester,
dann sehen wir uns zu Sylvester.
(Postkarte an Erich Ebstein, 25. Dezember 1915)

Marginalien (1991/92), S. 27

 

 

56

Komm doch mit mir auf's Land, o Mine,
wir singen dort zur Mandoline.
(Postkarte an Erich Ebstein, 9. Juni 1916)

Marginalien (1991/92), S. 28

 

 

57

Sie kam, daß sie sich lasse wie'n
verfolgter schneller Wiesel an.
Doch leider wars der Liese Wahn,
es ging' auch ohne Vaselin.
(Postkarte an Erich Ebstein, 9. Juni 1916)

Marginalien (1991/92), S. 28
(Dort in der letzten Zeile irrtümlich: Vaccin)

 

 

58

Wird noch vom Dichterwert geschwätzt?
Oh nein! Jetzt wird das Schwert gewetzt.
Es wird sogar schon sehr gewetzt
und sich damit zur Wehr gesetzt.
(Postkarte an Erich Ebstein, 25. Juni 1916)

Marginalien (1991/92), S. 28
(vgl. Nr. 46)

 

 

59

Liegt einer fest in Rosenketten,
Kann er sich nicht durch Kosen retten.
(Postkarte an Carl Georg von Maassen, 8. Juli 1916)

Posaune (1984), S. 187

 

 

60

Vergiß nicht der Husaren wegen
der Münchner Gaudi wahren Segen.
Willst dort Du Dir Dein Glück bereiten,
wer wird Dich einst zurückbegleiten?
(Postkarte an Carl Georg von Maassen, 13. Juli 1916)

Posaune (1984), S. 188

 

 

61

Verlobungs-Hymne für
Dr. ERICH EBSTEIN/Oberarzt!
Du hast es stets, E.E., - und wie! - belacht
wenn bräutlich irgendwo die Liebe wacht'.
Du lebtest polygam im hellen Saus
in Deinem schlichten Junggesellenhaus.
Viel hübsche Mädchen sah das alte Zimmer, -
doch ach, der Oberarzt - er zahlte immer.
Fragt' einer Dich, ob bald die Hochzeit naht,
dann fandest Du, daß diese noch Zeit hat.
Du wolltest Dich lieber an ein Zweirad hängen,
als Dich so jung schon in die Heirat zwängen,
und meintest voller Wehmut: Meinen Klötchen
genügen ja vorerst die kleinen Mädchen,
wo es nicht gleich schon ein Verlöbnis gibt,
auch wenn man einmal mit Ergebnis liebt.
Doch ach! ein Glück, ein ungeahntes, stammt
von jenem Jawort auf dem Standesamt.
Nur eine Einz'ge darf man plötzlich gern haben.
Die Mädchen aber, die sich jedem Herrn gaben,
und die wir meist schon am Geräusche kennen,
die mögen an die Tür, die keusche rennen,
wohinter Erich, - denn es hat ihn gut! -
voll Demut schlummert in der Gattin Hut ...
Hör meinen Wunsch: Was Dir, o altes Haus,
die E.E.Eh' auch bringe, halt es aus!
Dem Doktor, der einst jede Göre schwang,
zum Heil gedeihe ihm der schwere Gang.
Doch daß das Schicksal, das gemeine Aas,
Dir glimpflich sei, komm' ich ihm eine Maß!
(Brief an Carl Georg von Maassen, 7. Oktober 1916)

Posaune (1984), S. 198 f.

 

 

62

Anährungsschüttelreim:
Bei Eiersatz und Maisgries
wird's Mann, Weib, Kind und Greis mieß.
(Postkarte an Carl Georg von Maassen, 27. Oktober 1916)

Posaune (1984), S. 199

 

 

63

Es schaffe Dir ein sonnig Heim
und Süßigkeit wie Honigseim!
(Postkarte an Erich Ebstein, 31. Dezember 1916)

Marginalien (1991/92), S. 29

 

 

64

Da wieder mal der Bundesrat
das Volk um etwas Rundes bat,
so hoff ich, daß die Hundesteuer
der Magistrat mir stunde heuer.
(Postkarte an Erich Ebstein, 17. Januar 1917)

Marginalien (1991/92), S. 30

 

 

65

Indem, wer aus dem Fenster speit,
sich gegen die Gespenster feit.
(Postkarte an Erich Ebstein, 25. Juni 1917)

Marginalien (1991/92), S. 30

 

 

66

Dem Mädchen in der Bäckerei
schläft häufig nachts ein Recke bei.
(Postkarte an Erich Ebstein, 9. Juli 1917)

Marginalien (1991/92), S. 30

 

 

67

Ik spüre so ein Zittern in die Beene,
Da gieß ik mir 'n Bittern in die Zähne.
(Postkarte an Erich Ebstein, 18. März 1918)

Marginalien (1991/92), S. 31

 

 

68

Zirkusgedicht:
Die Künstlerin beritten drang
begeistert in den dritten Rang,
womit sie auch den zweiten Rang
ihr Beifall zu bereiten zwang.
(Postkarte an Erich Ebstein, 12. September 1918)

Marginalien (1991/92), S. 31

 

 

69

Der USPD-Funktionär spricht:
Nur nicht gleich immer viel Bravour verschwenden!
Was hilft's euch, wenn mich Kugeln schwer verwunden?
Als Treuepfand läßt sich ein Schwur verwenden.
Und außerdem ist mein Gewehr verschwunden.

Die Aktion 11 (21-22) 28. Mai 1921, S. 303
Auch in: Gesamtausgabe (1983), S. 370

 

 

70

Es trinkt ein ganzes Schock Kamelchen
aus einem kleinen Mokkaschälchen.
(Brief an Carl Georg von Maassen, 27. Dezember 1930)

Posaune (1984), S. 664

 

 


 

 

Erläuterungen

Schüttelreim-Bücher kommen in der Regel ohne Erläuterungen aus, weil die Verse und ihr Sinn "selbsterklärend" sind. Angeboten werden hier auch keine Erläuterungen zu den Reimen von Erich Mühsam, sondern zu Personen und Begriffen, die heutigen Leserinnen und Lesern nicht mehr unbedingt etwas sagen - liegen doch die Verse rund 80 Jahre zurück.

Beginnen wir mit den Empfängern der Briefe und Postkarten. Hier taucht immer wieder der Name Erich Ebstein auf. Ebstein gehörte zu Mühsam's Freundeskreis in München. Er lebte von 1880 bis 1931, war von 1906 bis 1908 Assistenzarzt in München, später Mediziner in Leipzig; Epstein galt als großer Bücherliebhaber. Zum gleichen Kreis wie Ebstein gehörte Carl Georg von Maassen. Maassen (1880 bis 1940) war Literaturhistoriker und hat sich einen Namen als E. T. A. Hoffmann-Forscher gemacht. Initiator des erwähnten Freundeskreises unter dem Namen "Das junge Krokodil" war Artur Kutscher. Kutscher (1878 bis 1960) war Literaturhistoriker und Theaterwissenschaftler, seit 1915 Professor in München. Karl Heckell, der älteste der Kartenempfänger, lebte von 1864 bis 1929. Als Schriftsteller verfocht er mit Entschiedenheit den engen Zusammenhang der sozialistischen und der naturalistischen Bewegung. Als letzter Kartenempfänger ist Karl Kraus zu nennen, der von 1874 bis 1936 lebte und auch heute noch als Herausgeber der Zeitschrift "Fackel" unvergessen ist.

In den Gedichten genannte Namen: Jacobsohn im Gedicht Nr. 5 ist Siegfried Jacobsohn (1881 bis 1926), Publizist und Begründer der Zeitschrift "Die Schaubühne" (1905), die 1918 in die politisch-literarische Wochenschrift "Weltbühne" umgewandelt wurde. Mühsam war immer wieder in der "Weltbühne" mit Beiträgen vertreten. Ob im Gedicht Nr. 26 mit Lindau der Ort Lindau am Bodensee gemeint ist oder der Schriftsteller und Theaterkritiker Paul Lindau (1839 bis 1919), der Herausgeber der literarischen Zeitschrift "Die Gegenwart", war nicht zu klären. Hinter dem Namen Ritscher im Gedicht 28 verbirgt sich die Schauspielerin Helene Ritscher vom Münchener Residenztheater. Schulmann (Nr. 39) dürfte der livländische Arzt Eugen Schulmann (geb. 1860) sein, über den mehr nicht zu ermitteln war. Der Taubenschlag (Nr. 41) war ein Leipziger Restaurant. Die in Nr. 52 genannte Trude ist mit großer Wahrscheinlichkeit die Schaupielerin Trude Hesterberg (1897 bis 1967).

 

 


 

Register der Reimwörter

 

 

 


 

 

Literaturliste

Döhn, Helga
Oh säss E. E. in unsrer Mitten. Erich Mühsam an Erich Ebstein.
in: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie. 120. Heft (1991/92), S. 17-35
zitiert: MARGINALIEN

Fröhliche Kunst. Jahrgang 1902. Berlin: Messer

Höxter, John
So lebten wir. 25 Jahre Berliner Boheme. Berlin: Biko-Verlag 1929
zitiert: HÖXTER

Hug, Heinz
Erich Mühsam: (1878-1934); Bibliographie. Heinz Hug; Gerd W. Jungblut. Vaduz. Topos 1991

Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit. (1911-1914). München: Kain Verlag

Mann, Viktor
Wir waren fünf. Bildnis der Familie Mann. Konstanz: Südverlag 1949
zitiert: MANN

Mühsam, Erich
Gesamtausgabe. Gedichte
zitiert: GESAMTAUSGABE

Mühsam, Erich
In meiner Posaune muß ein Sandkorn sein. Briefe 1900-1934. Hrsg. von Gerd W. Jungblut. Vaduz. Topos Verlag 1984
zitiert: POSAUNE

Mühsam, Erich
Der Krater. Berlin: Morgen-Verlag 1909. (Nachdruck Berlin: Guhl 1977)

Mühsam, Erich
Namen und Menschen. Unpolitische Erinnerungen. Leipzig: Volk und Buch Verlag 1949

Mühsam, Erich
Die Wüste. Gedichte von Erich Mühsam. Berlin: Eißelt 1904

Mühsam, Erich
Zur Psychologie der Erbtante. Satirisches Lesebuch 1900-1933. Berlin: Eulenspiegel-Verlag [1984]